Niemand ist alleine krank

Ein chronisch krankes Kind stellt die gesamte Familie vor schwierige Aufgaben, und manche scheitern daran. Die Resilienzforschung zeigt, was sie davor schützt.

Herausforderung für die Kinder

Chronische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter sind in den vergangenen Jahrzehnten immer häufiger geworden. Nach Schätzungen von Experten gelten ungefähr zehn Prozent aller vier- bis siebzehnjährigen Kinder als chronisch krank; die mit Abstand meisten davon leiden an Asthma und Allergien. Zusätzlich zu ihren medizinischen Problemen drohen den betroffenen Kindern und Jugendlichen beträchtliche Entwicklungsrisiken; psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten kommen bei ihnen zwei- bis dreimal so häufig vor wie bei körperlich gesunden Kindern.
Eine chronische Erkrankung bedeutet für Kinder und Jugendliche also eine große Herausforderung. Sie müssen sich damit auseinandersetzen und lernen, ihre Krankheit zu akzeptieren – eine lebenslange Aufgabe, die sich bei jedem Entwicklungsschritt und in jedem Kontext (Kindergarten, Schulklasse, Sportverein, Peergroup …) neu stellt. Das bedeutet eine immer erneute Auseinandersetzung mit der „Ungerechtigkeit“, von einer chronischen Krankheit betroffen zu sein, und mit der Anforderung, ein möglichst „normales“ Körperbild zu entwickeln und ein möglichst „normales“ Leben zu leben. Die Kinder und Jugendlichen müssen in den unterschiedlichsten Situationen den Mut zu einem offenen Umgang mit der Erkrankung aufbringen; sie müssen lernen, zu ihren Einschränkungen zu stehen und sich zugleich in die soziale Situation so gut wie möglich ein- zufügen.

Zudem müssen sie sich viel intensiver als körperlich gesunde Gleichaltrige mit ihren Eltern altersgemäß um Aufsicht und Kontrolle, Autonomie und Selbstständigkeit auseinandersetzen. Und nicht zuletzt müssen sie lernen, ihre Erkrankung zu verstehen und die notwendige Behandlung je nach Entwicklungsstand in größtmöglicher Autonomie durchzuführen. Wenn das gelingt, entwickeln viele Kinder und Jugendliche sich zu den besten Fachleuten für ihre Erkrankung, von deren Expertise selbst professionelle Helfer lernen können.

Herausforderung für die ganze Familie

Und natürlich gilt auch bei einer chronischen Erkrankung eines Kindes die Regel: „Niemand ist alleine krank!" Sie stellt die gesamte Familie vor große Herausforderungen. So müssen die Geschwister – die sogenannten Schattenkinder – lernen zu akzeptieren, dass das chronisch kranke Kind den größten Teil der Aufmerksamkeit und Zuwendung der Eltern absorbiert. Die Eltern müssen sich, ähnlich wie das chronisch kranke Kind selbst, in jeder Phase seiner Entwicklung und in jedem neuen Kontext mit ihrer Enttäuschung und ihrer Wut über die Tatsache der Erkrankung ihres Kindes auseinandersetzen. Sie müssen Trauerarbeit leisten um das gesunde Kind, das sie sich gewünscht hatten, und Vorwürfe an sich selbst oder den Partner überwinden. Sie müssen die unvermeidlichen Einschränkungen akzeptieren und einen möglichst „gesunden“ Umgang mit der knapper gewordenen Zeit für ihre anderen Kinder und ihre Partnerschaft erlernen. Sie müssen medizinische Informationen sammeln und die Behandlung ihres Kindes optimal organisieren; dazu gehören nicht nur die Arzt- und Krankenhausbesuche, sondern auch die Durchführung (bei den kleinen Kindern) und Beaufsichtigung (bei den Größeren) der notwendigen Behandlungen daheim. Sie müssen lernen, die Erkrankung nicht zu leugnen und doch das Kind möglichst „normal“ zu behandeln.

In der Arbeit mit Eltern chronisch kranker Kinder stellen sich immer wieder ähnliche Fragen:

❚❚  Was können und sollten sie ihrem Kind zutrauen?

❚❚  Was können und sollten sie ihrem Kind zumuten?

❚❚  Was können sie zulassen und was nicht mehr?

❚❚  Wie viel Kontrolle und Aufsicht ist notwendig, wieviel Freiheit und Eigenständigkeit möglich?

❚❚  Braucht das Kind tatsächlich – und gegebenenfalls wie weit – einen Ausgleich für seine Einschränkung?

❚❚  Wie gehen sie mit der berechtigten Eifersucht der Geschwister um? Welchen Ausgleich brauchen sie?

Und, nicht zu vergessen, die ganz wichtige Frage:

❚❚  Welche Unterstützung und welchen Ausgleich brauchen sie als Eltern und als Ehepaar, um auf beiden Ebenen, der Elternebene und der Paarebene, ein möglichst erfülltes Leben führen zu können?

Folgen für das Familienleben

Im besten Fall entwickeln Familien mit der Zeit das Motto: „Die Erkrankung läuft bei uns in der Familie ganz selbstverständlich mit. Die Therapie gehört wie das Zähneputzen zum Alltag. Unser Familienleben besteht nicht nur aus der chronischen Erkrankung.“ Allerdings kann es angesichts der schwierigen Aufgaben, vor denen chronisch kranke Kinder und ihre Familien stehen, nicht verwundern, dass manche zur Verarbeitung dieser Belastung Struktur- und Verhaltensmuster entwickeln, die die chronische Krankheit negativ beeinflussen und den Umgang mit ihr erschweren.

  • Zum Beispiel kann die Vielzahl notwendiger Unterstützungsmaßnahmen und unvermeidlicher Arzt- und Klinik- besuche es notwendig machen, dass ein Elternteil – in unserer Kultur meist die Mutter – teilweise oder völlig auf die eigene Berufstätigkeit verzichtet, um sich ganz dem chronisch kranken Kind zu widmen und sich in seine Behandlung und ihre kontinuierliche Überwachung einzuarbeiten. Während sie das Kind in seiner Auseinandersetzung mit der Krankheit begleitet, geht der Vater weiter seinem Beruf nach. Diese Aufgabenteilung, die anfangs möglicherweise sinnvoll und notwendig erscheint, kann zu einem rigiden Muster erstarren und in eine Spaltung des Paares oder der Familie münden, bei der alle Beteiligten unzufrieden werden: Die Mutter klagt, dass sie alles alleine bewältigen müsse, der Vater verzweifelt daran, dass seine Bemühungen um Unterstützung als qualitativ unzureichend abgewehrt werden.
  • In anderen Familien entwickelt sich eine depressive Verarbeitung der Krankheit – alles Notwendige wird sorg- fältig erledigt, aber die Freude am Leben geht darüber verloren. Die Krankheit wird zu einem „Familienmitglied“, das alle Aufmerksamkeit auf sich zieht und jedes frohe Denken und Handeln verbietet.
  • Oder die hohe Aufgabendichte bewirkt einen großen innerfamiliären Zusammenhalt, der zugleich jedoch mit einer Pseudoharmonie und Abschottung nach außen einhergeht. Es gilt die Regel: „Nur wir können uns aufeinander verlassen.“ Und: „Wir können uns keine Konflikte leisten.“
  • Wieder andere Familien verweigern die Anpassung an veränderte Konstellationen, da sie jede Veränderung angesichts ihrer (nur mit Mühe bewältigten) Belastungen für gefährlich erachten. Das Ergebnis ist eine „eingefrorene“ Familienstruktur, unter der alle leiden.
  • In überforderten Familien kommt es zuweilen auch zu einer allgemeinen Verantwortungsdiffusion: Die Eltern verzweifeln, weil ihr Kind notwendige Behandlungen nicht regelmäßig durchführt, und verweigern die Kontrolle nach dem Motto: „Es muss selbst einsehen, dass die Behandlung notwendig ist.“ Ärzte und Kliniken werden beschuldigt, dem Kind nicht richtig vermittelt zu haben, wie wichtig die Behandlung ist und was es tun muss. Das Kind wiederum entwickelt die Devise: „Wenn meine Mama und mein Papa sich nicht kümmern, dann mach’ ich auch nichts.“

Unterstützung holen

In all diesen Fällen brauchen die Betroffenen die Unterstützung einer Familientherapeutin (oder eines Familientherapeuten). Sie wird zunächst die Belastungen und das Leid würdigen, die die chronische Erkrankung des Kindes auslösen, und dann die Leistungen der Familienmitglieder im Umgang damit anerkennen. Sie wird die guten Absichten betonen, die sich oft hinter den Schwierigkeiten und dem Scheitern verbergen, und der Tendenz vieler Familien entgegensteuern, lediglich auf die Erkrankung zu blicken und die gesunden Seiten des Kindes und seiner Bezugssysteme zu ignorieren. Und sie wird den Familienmitgliedern Hilfestellung anbieten, wie sie aus den Sackgassen, in die sie trotz bester Absichten geraten sind, wieder herausfinden können.

Die Belastungen bewältigen

Nützliche Richtlinien für solche Lösungen und die Bewältigung einer chronischen Erkrankung lassen sich aus der Forschung zur Resilienz ableiten. Sie ging der Frage nach: Welche Fähigkeiten zeichnen bestimmte Menschen aus, die schwere Belastungen und Widrigkeiten in ihrem Leben bewältigen, ohne daran zu verzweifeln?

Übersetzt auf die chronische Erkrankung eines Kindes heißt das:

Die  Krankheit  akzeptieren 
Die Bereitschaft, den Tatsachen ins Auge zu sehen und das Leben so anzunehmen, wie es ist, öffnet den Weg zu realistischen Einschätzungen und Planungen.

Die  Krankheit  als  Herausforderung  betrachten 
Statt die Ungerechtigkeit zu beklagen, von der Erkrankung betroffen zu sein, aktivieren resiliente Menschen die eigenen Bewältigungsmöglichkeiten. Sie glauben an die eigene Fähigkeit, mit dieser Herausforderung umgehen zu können, und vertrauen auf die eigene Selbstwirksamkeit.

Die Opferrolle verlassen
Resiliente Menschen besinnen sich auf die eigenen Stärken, suchen ihr Leben selbst zu bestimmen und unabhängig zu entscheiden. Auch unter diesem Aspekt geht es also darum, die Gedanken nicht um den Schicksalsschlag kreisen zu lassen – nach der Devise des Dalai Lama: „Schmerz ist unvermeidlich – doch leiden ist eine Entscheidung.“

Ein Netzwerk knüpfen 
Resiliente Menschen suchen Hilfe und Unterstützung in ihrem sozialen Umfeld oder bei professionellen Helfern. Sie handeln nach dem Motto: „Geteiltes Leid ist halbes Leid, geteilte Freude ist doppelte Freude.“

Nach  vorn  schauen 
Die Bewältigung einer chronischen Erkrankung gelingt am besten, wenn die Betroffenen und ihre Angehörigen alte Verhaltensmuster aufgeben, die früher einmal stimmig waren, und sich stattdessen neue Ziele setzen und daran Orientierung finden. Es geht um das Zulassen und Entwickeln von Alternativen und Visionen, die es ermöglichen, handlungsfähig und flexibel zu bleiben – auch wenn es anders gekommen ist als erwartet.

Wilhelm Rotthaus